Totentanz

Totentanz | danse macabre

Jens Martin Neumann: so viele Jahre habe ich schon mit euch getanzt

Der Tod ist das große Paradoxon des menschlichen Lebens. So sicher wir wissen, dass jeder Mensch sterben muss, so wenig können wir uns den eigenen Tod vorstellen. Jede Kultur muss auf diesen inneren Konflikt zwischen Todesgewissheit und Unsterblichkeitserwartung eine Antwort geben. So soll der altperuanische und altägyptische Ritus der Mumifizierung des Körpers ein Fortleben nach dem Tod sichern. Der Totenkult bringt das Totenbild hervor: Schon jungsteinzeitliche Totenmasken bilden im Nahen Osten das verlorene Gesicht nach; in spätantiker Zeit tritt das gemalte Bildnis an das Grab. Svenja Wetzenstein blickt, im Rahmen dieses kulturellen Gedächtnisses, auf den abendländischen Totentanz, der im 15. Jahrhundert von der Friedhofsmauer in die Malerei und Graphik aufsteigt. Dort führt der tänzelnde Tod seine widerstrebenden, von Angst erfüllten Opfer fort, Trost spendet nur der Glaube an die Auferstehung des Fleisches am Ende aller Zeiten. Der Totentanz wurde damals ebenso gespielt wie er gemalt und in Holz geschnitten wurde, auch an solchen Aufführungen setzt Svenja Wetzenstein an. Wie Hans Holbein der Jüngere in seiner berühmten Holzschnittfolge von 1538 verwandelt die Malerin den traditionellen Tanzreigen in eine Folge einzelner Szenen, die von der Präsenz des Todes mitten im Leben berichten. In ihren intimen Andachtstafeln werden moderne Menschen jeden Alters, Geschlechts und sozialen Stands — kleine Mädchen, reife Frauen und ergraute Männer, aber auch der verkleidete Narr und die Kreuzritter — vom Tod als Holbein-Gerippe in violett-blau-grün geflecktem Kapuzenmantel in einem letzten Gespräch abgerufen. Vor dem Tod sind alle gleich. Wirklich ernst wird der freundliche Sensenmann von den Betroffenen allerdings nicht genommen, wichtiger ist vielen ein selbstgefälliges Posen. Eher realisieren wir Betrachter*innen, dass das Skelett ein Spiegelbild der Lebenden ist, das raunt: „Du bist es selbst“.


Die abendländische Kunst hat für den existenziellen Widerspruch von Todeshinnahme und Todesüberwindung zwei gegensätzliche Bilder bereitgestellt, die Svenja Wetzenstein synchron zusammenführt: Den Totenschädel, dem das Gesicht im Tod entglitten ist, und das Porträt, das als Bild des Lebens gegen den Tod zeugt. Die schmerzlichste Aussage liegt hier in der Konfrontation von fleischigem Kindergesicht und knochigem Kopfskelett. Als das Individualporträt um 1430 entsteht, ist es eine unerhörte Anmaßung, das eigene Gesicht im Bildnis verewigen zu lassen, obwohl es doch sterblich ist und im Altern den Tod ankündigt. So ist es eine Art Sühne, auch den Schädel zu malen. Heute stellen wir das eigene Gesicht in einer imaginären Dauerparty ins Netz, doch es bezeugt rein gar nichts. Das Thema erweitert sich hier um die Figur des Pestarztes, dessen Schnabelmaske als symbolisches Rabengesicht das gefährdete Gesicht schützt. Manchmal muss er dem Sensenmann in die leere Augenhöhle schauen, ansonsten darf er bei Wetzenstein ein normales Leben führen. Sie zeigt ihn beim Einkaufen und Kochen.Charakteristisch für Svenja Wetzensteins Malerei sind scheinbar zufällige, nah heran gezoomte Lebensszenen, die nur in einzelnen Partien ausformuliert sind, den Holzgrund großflächig sichtbar lassen und die Bildgrenzen zu sprengen drohen. Für ihren Totentanz hat sie einen Sensenmann-Darsteller auf einem Mittelalter-Reenactment begleitet und die Begegnungen mit dem Publikum in gut fünfhundert Fotographien festgehalten, die sie malerisch interpretiert. Das genau macht Wetzensteins Menschenreigen zum zeitgenössischen Totentanz. Zum Tragen kommen einerseits der Anspruch als beglaubigtes Dokument, den sich ihre Malerei von der Fotographie borgt, andererseits die Mündigkeit als gemalte Bildtafel, gesichert durch die Überwindung der Fotographie durch Malerei.
Denn im Prozess des Malens wird die Vorlage in Ausschnitt, Farbe und Räumlichkeit verändert, Gegenstände und Figuren verflüchtigen sich zu weichen Farbverläufen und sanften Pinselstrichen. Bestimmend wirkt die leicht verwischte und getupfte Malweise, welche die Bildfläche zu einem kleinteiligen Stakkato bunter, lichtvoller Farbflecken in engstem Beieinander nuancierter Tonfolgen entwickelt, zusammengehalten von Maserung und Eigenfarbe des Holzträgers. Mit ihm verbindet sich innig die Hautfarbe, so dass die Figuren untrennbar, schicksalshaft ins Holz eingelassen sind. Die bildnerischen Prinzipien von Ausschnitt, Fragment und Skizzenhaftigkeit entsprechen unserem bruchstückhaften Vorstellungsvermögen. Dessen Mischung aus teils klarem Wissen, teils isolierten Erinnerungssplittern oder nur dunklen Ahnungen findet seine formale Entsprechung im Wechsel von gleichsam scharfen Bildzonen zu nur summarisch bezeichneten, holzigen Leerstellen.
Svenja Wetzenstein bezieht das Todesthema schonungslos auf sich selbst. So stellt sich die Malerin, gewappnet mit einem roten Lederkoller, in der letzten Szene entschlossen dem Tod entgegen. In der gefühlsstarken Elegie der „Pietà“ spricht die Künstlerin als Maria, als Frau und Mutter: In einer Kirche steht sie mit ihren Kindern in unaufdringlicher Formanalogie vor einem überlebensgroßen Vesperbild, das Maria mit dem Leichnam Christi auf ihrem Schoss zeigt und den Schmerz der Gottesmutter über den Tod ihres Sohnes plastisch veranschaulicht. Dabei ist die steile Diagonale, die alle fünf Figuren miteinander verbindet, von größter Erzählkraft. In ihr überträgt sich die Trauer Mariens als eigene Erfahrung auf die Künstlerin.


Wie in ihren Malereien verfolgt Svenja Wetzenstein auch in den kleinen, amuletthaften Bronzen eine formale Verknappung, die einzelne Details zugunsten einer wulstigen, spannfähigen Gesamtform und zerklüfteten, in rauen Schollen gebrochenen Oberflächen opfert. Das anrührende „Tödchen“ liegt steif, eingekrümmt, wie neugeboren auf dem Rücken, es suggeriert die metaphorische Verbindung von Schlaf und Tod. Die gestreckte Körperform des „Fischtods“ entwickelt sich in dynamisch eingerundeter Aufwärtsbewegung in eine gischtschäumende, gleichsam verflüssigte Schwanzflosse, sendet uns im erhobenen Arm zugleich den letzten Gruß Kapitän Ahabs. Das „Tuch“ ist eine geistreiche Studie über den Wechselbezug von Form und Intervall: Wir erahnen den Leichnam in seiner Abwesenheit einzig aus den umschreibenden, aufgebundenen Konturen, als gleichnishaft vergängliches Nichts, gegossen in eine dünne Schale.


Svenja Wetzensteins Arbeiten bezeichnen eine Spurensuche des menschlichen Lebens. Sie beschäftigt sein letztes Geheimnis: der Tod in seiner Bedeutung für das Leben, oder wie James Baldwin 1963 in „The Fire Next Time“ (Neuübersetzung, München 2020, S. 100) schrieb: „wir sollten beschließen, unseren Tod zu verdienen, indem wir uns mit Leidenschaft dem Rätsel des Lebens stellen. Wir tragen Verantwortung für das Leben: Es ist das kleine Signalfeuer in der beängstigenden Dunkelheit, aus der wir kommen und in die wir zurückkehren werden. Diese Reise müssen wir so würdevoll wie möglich unternehmen.“


Jens Martin Neumann I Kunsthistoriker I Kiel